Christian Gottlob Heyne

(1729–1812)

 
 

Dass er ein Manuskript des berühmten Professors Heyne besaß, half ihm nichts. Werther blieb der bürgerliche Außenseiter am Etikette-korsettierten Hof, bekam seine Lotte nicht, und brachte sich schließlich um. So etwas wäre Christian Gottlob Heyne nicht in den Sinn gekommen. Er war kein Stürmer und Dränger wie der junge Goethe. Er war Wissenschaftler durch und durch.
Veröffentlichte unzählige kluge Schriften. Viele davon in Latein. Aber eines konnte er dem tragischen Helden aus Goethes Welterfolg nachempfinden: was es bedeutet, nur „bürgerlich“ zu sein.
Er war dazu noch arm wie eine Kirchenmaus. Erst mit 34 Jahren verdiente er so viel Geld, dass es nicht nur für mehr als zum Sterben, sondern auch zum Leben reichte. Ohne die Lateinschule in Chemnitz hätte er das nicht geschafft. Diese Schule, gegründet noch im 14. Jahrhundert, hatte einen Ruf weit über die Stadt hinaus und mehrere hundert Schüler. Auch der große Agricola lernte einst dort. Aber die Schule kostete Geld. Das hatten die Eltern, arme Leinenweber, nicht.
Chemnitz war im 18. Jahrhundert eine reiche Stadt, aber nicht alle Bürger waren reich. Immerhin durfte der kleine Christian Gottlob auf eine Kleinkinderschule in der Vorstadt. Der Pate, ein Pastor, erkannte wohl das Potenzial seines Schützlings und stattete ihn so aus, dass er zwar „kärglich“, aber immerhin die Lateinschule besuchen konnte. Wo man außer Latein auch Griechisch, Grammatik und Rhetorik lernen konnte. Und wo es viele Bücher gab. Jahre später wurde Heyne an der neu gegründeten Uni in Göttingen anerkannt einflussreicher Professor für Poesie und Beredsamkeit, Chef der Philologischen Fakultät und der Uni-Bibliothek. Die machte er, das war ganz neu nicht nur in Deutschland, nicht nur für Fachgelehrte und Studiosi, sondern für jedermann zugänglich. Was auch dazu führte, dass er manchen Ausleihen hinterherrannte (im Juni 1805 musste er Herrn Goethe nach mehr als zwei Jahren „aus Bibliothekars Pflicht um Rückgabe der im März und im August 1803 entliehenen Bücher“ bitten). Seine vergötterte älteste Tochter („Ruschelhänschen“ rief er sie) bezog ihre autodidaktische Bildung aus der Unzahl von wild ausgewählten Büchern dieser Bibliothek, und nicht vom geistesgroßen Professoren-Vater. „Ich möge um alles in der Welt nicht für gelehrt gehalten sein“, schrieb sie mal an eine Freundin. Und verfasste späte romantische Romane…Heyne war höchst belesen und gelehrt, aber kein Fachidiot.
Er suchte Zusammenhänge und Verständnis. Verband das Wissen aus antiker Lyrik und Epik, aus Archäologie und Exegese, aus Ikonografie und Mythologie mit der aktuellen Zeitgeschichte. Als erster machte er damit die vorher den Fachleuten vorbehaltenen Sparten durch eine gebündelte und verständliche Altertumswissenschaft auch für die nicht so gelehrten Zeitgenossen attraktiv. „Was Du ererbt von Deinen Vätern…“ Goethe blieb Heynes Freund, wie Lessing, Herder und viele
andere Geistesgrößen der Zeit.
Heyne aber vergaß seine Freunde aus der armen Kinder- und Jugendzeit nicht. Jedes einzelne seiner Werke schickte er auch zur Lateinschule nach Chemnitz. Die war stolz auf ihren früheren Eleven. Und obwohl er im fernen Göttingen gestorben war, erinnerten sich seine Chemnitzer dankbar an ihn mit einem feierlichen Totengedenken. Wieder war durch sie aus einem armen Jungen eine reiche Geistesgröße erwachsen.