Marie Luise Pleissner

(1891–1983)

 
 

Als Marie Pleißner am 17. Mai 1891 in Chemnitz als Tochter eines Lehrerehepaares das Licht der Welt erblickt, war Wilhelm II. Kaiser und Bismarck seit zwei Jahren nicht mehr Kanzler. Das 1871 gegründete Deutsche Reich strebte in Europa nach einem vorderen Platz, die Industrie boomte, die Städte wuchsen, die deutsche Wissenschaft errang Weltgeltung.

Marie besuchte nach Volksschule und Höherer Mädchenschule das Lehrerseminar und fand 1915 im Anschluss an die Hilfslehrerzeit Anstellung an der Chemnitzer Schloßschule. Sie spürte die Enge und Aggressivität der Wilhelminischen Gesellschaft und begann aktiv für die Rechte der Frau, die Erhaltung des Friedens und den Aufbau der Demokratie zu kämpfen. Frühzeitig engagierte sie sich im Deutschen Lehrerverein und im Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein, war nach Kriegsende dessen Vorsitzende. Als überzeugte Bürgerliche trat sie 1918 der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei, gehörte zu deren Vorstand. Der Friedenskampf führte sie in deutsche und internationale Gremien. Im März 1933 kandidierte sie als Reichstagsabgeordnete der DDP. Beruflich war es auch voran gegangen, seit 1929 Lehramt an der Höheren Mädchenbildungsanstalt. Den Nazis galt sie als feindselig, nach deren Machergreifung folgten Repressionen und 1934 die Entlassung aus dem Schuldienst.

Dennoch zog sie sich nicht zurück, erteilte vor allem jüdischen Kindern, die von deutschen Schulen ausgeschlossen wurden, Privatunterricht, bot Englischkurse für Emigrationswillige an und nutze nach der Pogromnacht von 1938 Kontakte mit den Quäkern und Reisen nach England, um jüdischen Kindern die Flucht zu erleichtern.

1939 denunziert, von der Gestapo verhaftet, kam sie ins KZ Ravensbrück. 1940 wieder entlassen, Gestapoüberwachung blieb. Nach Ende des Krieges stellte sie ihre Kraft voller Enthusiasmus in den Dienst eines antifaschistischen, demokratischen Neuaufbaues, war Mitbegründerin des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands und der Liberal Demokratischen Partei, vertrat deren Politik im Chemnitzer Stadtparlament und im Landtag.

1945 wurde sie zur Dozentin für die Neulehrerausbildung und von 1946 bis 1953 zur Fachlehrerin an der Friedrich-Engels-Oberschule, heute Karl-Schmidt-Rottluff-Gymnasium, berufen.

Die Illusion einer demokratischen Entwicklung erfüllte sich in Ostdeutschland nach 1945 nicht, eine stalinistische Diktatur wurde installiert, alle, auch ihre LDPD gleichgeschaltet und zu Marionetten der SED degradiert. Viele Parteifreunde flohen, sie blieb, machte Front gegen den Wehrkundeunterricht in den Schulen, wurde wieder suspekt. Den Status „Verfolgte des Naziregimes“ erkannte man ihr 1950 ab, gab ihn später zurück. Auf internationaler Ebene blieb sie als Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin aktiv. Das Regime benutzte Marie Pleißner als Zeugin für seinen „demokratischen“ Charakter. Sie war eine Bürgerliche, eine liberale Demokratin, eine Kämpferin für Demokratie. Diesen ihren Überzeugungen blieb sie unabhängig von den wechselnden Systemen ein ganzes Leben treu. Denunziation, Berufsverlust und Haft konnten sie nicht davon abbringen.